Schulterluxation: Sind Eigenübungen zuhause gleichwertig mit Physiotherapie in einer Praxis?
02. Apr, 2025
Die Schulter ist das am häufigsten luxierte Gelenk. Erstmals aufgetretene Schulterluxationen werden in der Regel konservativ behandelt. In der randomisierten kontrollierten ARTISAN-Studie1, die im renommierten British Medical Journal publiziert wurde, verglichen Kearney et al. die Wirkung zweier konservativer Methoden zur Behandlung einer traumatischen Erstluxation des Schultergelenks.
Bei einer Schulterluxation wird der Oberarmkopf aus der Schulterpfanne verdrängt und die Gelenkflächen verlieren vollständig den Kontakt. Meistens handelt es sich um Sport- oder Sturzverletzungen. Sie sind meist sehr schmerzhaft und bedürfen einer Notfallbehandlung. In 95 % der Fälle handelt es sich um eine anteriore Schulterluxation (Auskugeln nach vorne).
Erstluxationen des Schultergelenks werden meistens konservativ behandelt: Nach der Reposition erhalten die Patientinnen und Patienten eine Schmerztherapie und der betroffene Arm wird mit einer Schlinge oder Orthese ruhiggestellt. Nach der Akutbehandlung folgt in der Regel eine mehrmonatige Rehabilitation, um die vollständige und schmerzfreie Funktionsfähigkeit des Schultergelenks wiederherzustellen.
Allerdings unterscheiden sich die internationalen Leitlinienempfehlungen zu Rehabilitationsmaßnahmen. Sie reichen von einer einmaligen Beratung zu Eigenübungen bis hin zu einem betreuten Physiotherapie-Programm. Letzteres kann bei vielen Patienten mit erheblichen organisatorischen Belastungen einhergehen. Daher böte die Rehabilitation mit Eigenübungen Vorteile für die Betroffenen und könnte zudem Kosten einsparen – sofern ihre Wirkung mit einem Physiotherapie-Programm vergleichbar wäre.
ARTISAN-Studie: zwei Rehabilitationsmethoden im Vergleich
Vor diesem Hintergrund initiierten Kearney et al. mit der ARTISAN-Studie die bislang größte randomisierte, kontrollierte Studie zum Vergleich von Rehabilitationsansätzen bei Menschen mit einer Erstluxation des Schultergelenks (ARTISAN: Acute Rehabilitation Following Traumatic Anterior Shoulder Dislocation). In die Studie wurden zwischen November 2018 und März 2022 insgesamt 482 Personen in 40 Kliniken des britischen National Health Service (NHS) eingeschlossen. Alle Studienteilnehmenden hatten eine anteriore Erstluxation erlitten und waren initial ausschließlich konservativ behandelt worden (Reposition und Ruhigstellung mit einer Armschlinge).
Anschließend wurden die Patientinnen und Patienten 1:1 randomisiert:
- Die eine Gruppe erhielt ein einmaliges physiotherapeutisches Beratungsgespräch zu Eigenübungen und Selbstmanagement mit unterstützendem Informationsmaterial sowie die Möglichkeit einer Wiedervorstellung in einer physiotherapeutischen Praxis (Eigenübungsgruppe).
- Die andere Gruppe erhielt ebenso ein physiotherapeutisches Beratungsgespräch mit unterstützendem Informationsmaterial wie in der Eigenübungsgruppe und zusätzlich Behandlungstermine in einer physiotherapeutischen Praxis (Physiotherapie-Gruppe).
Beurteilung der Therapieeffekte mit verschiedenen Studienendpunkten
Primärer Studienendpunkt der ARTISAN-Studie war der Oxford Shoulder Instability Score nach sechs Monaten. Dieser Score wird mit Hilfe eines Patientenfragebogens zu den Aktivitäten des täglichen Lebens errechnet, welche bei Schulterinstabilitäten besonders relevant sind. Seine Skala reicht von 0 bis 48, wobei höhere Werte auf eine bessere Funktion hinweisen.
Zu den sekundären Endpunkten gehörten die Ergebnisse eines QuickDASH-Fragebogens (Kurzversion von DASH zur Erfassung von Funktionseinschränkungen der oberen Extremität) und eines EQ-5D-5L-Fragebogens zur Lebensqualität. Die Zahlen wurden jeweils nach sechs Wochen sowie nach drei, sechs und zwölf Monaten erhoben. Des Weiteren wurden etwaige Komplikationen und die Adhärenz der Studienteilnehmenden dokumentiert.
Erstaunliches Ergebnis: Keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen
Für 354 der 482 eingeschlossenen Patienten lagen Ergebnisse zum primären Endpunkt vor.
Für den primären Endpunkt, den Oxford Shoulder Instability Score, fanden die Studienautoren keinen signifikanten Unterschied zwischen beiden Interventionsgruppen (Intention-to-Treat-Analyse) – weder nach sechs Monaten noch zu den früheren Zeitpunkten nach sechs Wochen oder drei Monaten. Nach sechs Monaten betrug der durchschnittliche adjustierte Score-Unterschied zwar 1,5 zugunsten der zusätzlichen Behandlung beim Physiotherapeuten (95 %-Konfidenzintervall (KI): -0,3 bis 3,5). Allerdings wurde zu keinem Zeitpunkt eine Differenz von 4 Score-Punkten erreicht, die nach der Protokolldefinition erforderlich war, damit eine der beiden Inventionen als „sinnvoller“ (worthwhile) eingestuft werden konnte.

Abbildung 1: Der Oxford Shoulder Instability Score zeigte keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen (Wertebereich: 0 bis 48; höhere Score-Werte deuten auf eine bessere Funktion hin)
Auch bei den sekundären Endpunkten unterschieden sich die beiden Studiengruppen nicht signifikant. Das Komplikationsmuster war in beiden Kohorten ähnlich – ohne signifikante Unterschiede.
Mit Blick auf die Adhärenz, zeigte sich das folgende Bild:
- In der Physiotherapie-Gruppe wurden allen 242 Patienten ein Physiotherapie-Programm angeboten. 69 % absolvierten alle vereinbarten Sitzungen. 12 % erschienen nur zu einem und 10 % zu keinem Sitzungstermin.
- In der Eigenübungs-Gruppe mit 240 Patienten nahmen 81 % ausschließlich am initialen Beratungsgespräch teil. 18 % stellten sich selbst wieder bei einem Physiotherapeuten vor. Außerdem wechselten zwei Patienten auf ärztliche Empfehlung zu einem Physiotherapie-Programm.
Fazit
Sind nach einer Schulterluxation Eigenübungen zuhause in ihrer Wirksamkeit mit Behandlungen in einer physiotherapeutischen Praxis vergleichbar oder nicht? Die Autoren der ARTISAN-Studie kommen aufgrund der Ergebnisse zu folgenden Schlüssen:
- Eine Physiotherapie mit einer Therapeutin oder einem Therapeuten ist laut dieser Studie der Vergleichsintervention mit Eigenübungen nicht überlegen.
- Da eine längere Physiotherapie für viele Patientinnen und Patienten eine erhebliche Belastung darstellt, wäre eine einzige Konsultation und Eigenübungen zuhause eine interessante Lösung, solange die Wirksamkeit dieser Therapieoption mit der klasssischen Physiotherapie gleichwertig ist.
- Weitere Studien zu Selbstmanagement-Strategien sind daher erforderlich.
Quellenangabe
1 Kearney RS, et al. Acute rehabilitation following traumatic anterior shoulder dislocation (ARTISAN): pragmatic, multicentre, randomized controlled trial. BMJ 2024;384:e076925. doi: 10.1136/bmj‑2023‑076925
Abbildung Röntgenbild: Foto @ Susmit Das/Shutterstock.com
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