Physical Literacy: Lernen, wie man ein Leben lang in Bewegung bleibt
07. Mai, 2024Dass sich Schulkinder in Deutschland zu wenig bewegen und zu viel sitzen, ist seit langem bekannt. Diese Beobachtung wurde auch im Deutschen Bewegungszeugnis 2022 [1] bestätigt: Anhand von Daten aus insgesamt 15 Forschungseinrichtungen des Netzwerks AHKG (Active Healthy Kids Germany“) haben die Autorinnen und Autoren von der TU München die körperliche Aktivität deutscher Schulkinder untersucht und bewertet.
Das Wichtigste in Kürze:
- Bilanz: Kinder und Jugendliche in Deutschland bewegen sich zu wenig.
- Physical Literacy ist ein sportpädagogisches Konzept von Margaret Whitehead.
- Selbst einzelne Maßnahmen können Physical Literacy bei Kindern und Jugendlichen fördern.
Das Ergebnis im internationalen Vergleich: In der übergreifenden Kategorie „Körperliche Aktivität“ wurden die deutschen Schulkinder mit der Schulnote 4- bewertet, nur ein Drittel der Kinder erreicht die Bewegungsempfehlung der Weltgesundheitsorganisation. Die Werte haben sich im Vergleich zur letzten Untersuchung im Jahr 2018 weiter verschlechtert, vermutlich aufgrund der Corona-Pandemie [2]. Besorgniserregend ist auch die Tatsache, dass sich Mädchen tendenziell noch weniger bewegen als Jungen [1]. Es stellt sich also die Frage, mit welchen Konzepten kann diese negative Entwicklung gestoppt oder umgekehrt werden.
Wie kann es gelingen, bei Kindern und Jugendlichen wieder Interesse und Freude an der Bewegung zu wecken? Wie kann man ihnen nicht nur die Bewegungskompetenz vermitteln, sondern auch das Wissen und Verständnis, warum Bewegung so ein integraler Bestandteil eines guten und gesunden Lebens ist? Bei der Frage, welche sportpädagogischen Konzepte geeignet sind, Kinder und Jugendliche zu mehr körperlicher Aktivität zu motivieren, wird immer häufiger das Konzept der Physical Literacy genannt.
Wie könnte Physical Literacy zu einem aktiveren Leben beitragen?
Die wissenschaftlichen Grundlagen für Physical Literacy (eine adäquate deutsche Übersetzung hat sich noch nicht durchgesetzt) wurden ursprünglich von der britischen Wissenschaftlerin Margaret Whitehead entwickelt. Whitehead ist eine international bekannte und renommierte Wissenschaftlerin und Persönlichkeit auf dem Gebiet der Sportpädagogik. Sie hat unter anderem für die WHO und das schwedische Karolinska-Institut gearbeitet.
Doch was genau ist Physical Literacy? Die International Physical Literacy Association (IPLA) definiert Physical Literacy in Anlehnung an Whiteheads Konzept wie folgt:
Das Konzept der Physical Literacy wurde erstmals 2001 von Margaret Whitehead in ihrem Artikel „The Concept of Physical Literacy" [4] eingeführt. Es findet seit mehr als 20 Jahren internationale Beachtung und wird kontinuierlich weiterentwickelt. Inzwischen hat sich Physical Literacy auch in Europa und in Deutschland etabliert, ist Gegenstand deutscher Forschungsprojekte geworden und wird zunehmend auch von der Sportpädagogik aufgegriffen und in den Sportunterricht integriert.
Nach Whitehead geht es bei Physical Literacy nicht um den Erwerb rein sportlicher Kompetenzen, sondern darum, dass Kinder und Jugendliche „grundlegende Fähigkeiten und Fertigkeiten erwerben, die es ihnen ermöglichen, körperliche Herausforderungen und Bewegungsaufgaben selbsständig und kreativ zu bewältigen und zu lösen“. Physical Literacy versteht Körper- und Bewegungserziehung als Teil der Persönlichkeitsentwicklung.
Whiteheads ursprüngliche Motivation war die Tatsache, dass die Bewegungsentwicklung in der Pädagogik bis dato als zweitrangig im Vergleich zu Sprach-, Rechen- und Sozialkompetenz angesehen wurde. Whitehead war der Ansicht, dass „der Wert körperlicher Aktivität als Bereicherung des Lebens während der gesamten Lebensspanne hervorgehoben werden muss.“ [4].
Abb.: Die vier Säulen von Physical Literacy: Motivation, Selbstvertrauen, Physische Kompetenzen und Wissen & Verständnis.
Laut eines Artikels aus Deutschland von 2020 [5] basiert das moderne Konzept von Physical Literacy auf einem breiten Ansatz, der biologische, psychologische und soziale Aspekte umfasst. Es geht nicht nur darum, körperliche Aktivitäten wie Sport und Spiel ein Leben lang auszuüben, sondern auch darum, deren Sinn und Zweck – und die Bedeutung für die eigene Entwicklung – zu reflektieren und zu verstehen.
Kreativ sein – im Sportunterricht und in der Freizeit
Auch wenn das Konzept der Physical Literacy in Deutschland noch nicht weit verbreitet ist, können Ideen für Spiele und Sport ausprobiert werden. In einer deutschen Studie [6] werden verschiedene Interventionen von Spielen bis hin zu Akrobatik vorgestellt, die leicht umgesetzt werden können. Hier finden Sie eine Auswahl von Aktivitäten mit Angabe der konkreten Ziele und der Fähigkeiten, die dabei besonders trainiert werden.
Kooperationsspiele
Kooperationsspiele stärken den Zusammenhalt in der Gruppe und fördern die Fähigkeit zu vorausschauendem, strategischem und planvollem Handeln. Die Kinder und Jugendlichen wenden dabei kooperative Strategien an, wobei Teamarbeit und gegenseitige Unterstützung im Vordergrund stehen. Erfolge werden gemeinsam gefeiert und fördern die Kommunikation, den gegenseitigen Respekt und die Problemlösungskompetenz in der Gruppe. Kooperationsspiele bieten ein dynamisches Lernumfeld, in dem wesentliche Eigenschaften sowohl für den Sport als auch für das Leben außerhalb des Sportplatzes gefördert werden [6].
Trendsport
Durch das Kennenlernen und Ausüben neuer Trendsportarten werden die Schulkinder dazu ermutigt, sich auf etwas Neues einzulassen, darüber zu sprechen und sich weiterzuentwickeln. So kann eine Kultur der Neugier und des persönlichen Wachstums entstehen, die Kinder können neue Einblicke in Gesellschaft und Kultur gewinnen und die Welt an sich besser verstehen [6].
Raufen
Beim Raufen lernen Kinder und Jugendliche, ihre Kräfte zu regulieren, während sie verschiedene Bewegungen ausführen. Durch Schieben, Ziehen und Festhalten entwickeln die Kinder Kraft und Stabilität. Wichtig ist, dass sie dabei Regeln verinnerlichen und ein Gefühl für Selbstkontrolle und angemessenen Einsatz von Kraft entwickeln. Der Respekt vor dem Körper und den Grenzen des anderen fördert eine Kultur des gegenseitigen Respekts und Verständnisses im Sport und darüber hinaus [6].
Ballspiele
Ballspiele sind für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen von unschätzbarem Wert. Durch das Erlernen und Beherrschen des Werfens, Fangens und Schießens lernen sie den effektiven Umgang mit dem Ball und gewinnen dadurch Selbstvertrauen. Durch individuelle Übungen und Mannschaftsspiele lernen die Kinder zusammenzuarbeiten, aber auch gegeneinander in den Wettbewerb zu gehen [6].
Akrobatik
Akrobatik bietet Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, verschiedene Formationen und Arrangements auszuprobieren. Einzel-, Paar- und Gruppenübungen helfen ihnen dabei, Kraft, Ausdauer und Gleichgewichtssinn zu entwickeln. Die Kinder erlernen nicht nur ein Repertoire an akrobatischen Grundformen, sondern auch Mut, Selbstbewusstsein und Vertrauen gegenüber anderen, z.B. beim Bau von Pyramiden. Diese Aktivitäten fördern auch Kommunikation, Kooperation und Integrität [6].
Tanzen
Tanzen im Sportunterricht schult ästhetische und rhythmische Bewegungsabläufe und fördert das Verständnis und die Wertschätzung für den Tanz an sich. Beim Tanzen in der Gruppe lernen Kinder und Jugendliche, Bewegungen zu synchronisieren und harmonisch auszuführen. Der Spaß steht dabei immer im Vordergrund. Es können auch gemeinsam Gruppenchoreografien entwickelt werden, was die Teamfähigkeit und eine gute Kommunikation und Zusammenarbeit in der Gruppe fördert [6].
Fazit
Physical Literacy ist eines von vielen interessanten Konzepten, die in Zukunft dazu beitragen könnten, Kindern und Jugendlichen – unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund – einen besseren Zugang zu Bewegung und Sport zu ermöglichen. Physical Literacy könnte auch dabei helfen, dass die erworbenen Kompetenzen nicht nur kurzfristig, sondern ein Leben lang nützlich sind. Dadurch könnten die Schülerinnen und Schüler besser in der Lage sein, ein gesundes und aktives Leben zu führen, was sich positiv auf ihre körperliche Gesundheit und ihr psychisches Wohlbefinden auswirken könnte.
Quellenangaben
[2] Ludwig-Walz, H., Siemens, W., Heinisch, S. et al. How the COVID-19 pandemic and related school closures reduce physical activity among children and adolescents in the WHO European Region: a systematic review and meta-analysis. Int J Behav Nutr Phys Act 20, 149 (2023). https://doi.org/10.1186/s12966-023-01542-x
[3] Website der International Physical Literacy Association (IPLA): https://www.physical-literacy.org.uk/
[4] Whitehead, M. (2001). The Concept of Physical Literacy. European Journal of Physical Education, 6(2), 127–138. https://doi.org/10.1080/1740898010060205
[5] Albrecht Hummel & Michael Krüger (2020). Physical Literacy und neue körperliche Grundbildung – Orientierung für den Schulsport. Sportunterricht, Schorndorf, 69 (2020), Heft 7. https://doi.org/10.30426/SU-2020-07-2
[6] Carl, J., Schmittwilken, L. & Pöppel, K. (2023). Development and evaluation of a school-based physical literacy intervention for children in Germany: protocol of the PLACE study. Frontiers in Sports And Active Living, 5. https://doi.org/10.3389/fspor.2023.1155363
Weitere Lesempfehlung:
Töpfer, C., Jaunig, J. & Carl, J. Physical Literacy – to be discussed: eine Perspektive aus Sicht der deutschsprachigen Sportwissenschaft. Ger J Exerc Sport Res 52, 186–192 (2022). https://doi.org/10.1007/s12662-021-00754-2