Schultermuskulatur: Wie sich neuromuskuläre Aktivierungslevels je nach Bewegung unterscheiden

10. Okt, 2023

Die Immobilisation hat einen hohen Stellenwert bei der Behandlung verschiedener Erkrankungen und Verletzungen des Schultergelenks, sei es in der konservativen Therapie als auch in der postoperativen Rehabilitation. Orthesen dienen dabei als wichtige Hilfsmittel: Durch Ruhigstellung, Sicherung des Gelenkes in einer vorgeschriebenen Position und Entlastung des betroffenen Körperteils können sie die neuromuskuläre Aktivierung reduzieren und somit den Heilungsprozess fördern. Dabei ist es erforderlich, dass Orthesen von den Patienten einfach an- und ausgezogen oder gelockert werden können, um einerseits eine frühfunktionelle Behandlung und andererseits eine ausreichende Mobilität für Aktivitäten des alltäglichen Lebens (ADL) zu ermöglichen. Einfache Bedienbarkeit und Tragekomfort scheinen hier einen positiven Einfluss auf die Patienten-Compliance zu haben.

Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung der Studie von Grim et al. (2022)1.

Ziel der Studie

Vorherige Studien hatten entweder die Oberflächen- oder die Tiefenmuskulatur während ADL oder physiotherapeutischen Übungen untersucht. In der vorliegenden Studie wurden erstmals die neuromuskulären Aktivierungslevels beider Muskelgruppen bei der Ausführung von ADL untersucht. Dabei trugen die Probanden im Unterschied zu älteren Studien drei verschiedene Schulterorthesen, die im Handel erhältlich sind. Des Weiteren wurde die neuromuskuläre Aktivierung bei der Ausübung von physiotherapeutischen Übungen ohne Orthese untersucht.

Die Hypothese war, dass die neuromuskuläre Aktivierung der Schulter bei der Ausübung von ADL unterschiedlich ausfällt, je nachdem welche Schulterorthese getragen wird, und dass es Unterschiede in der Aktivierung der Muskulatur bei der Ausübung verschiedener physiotherapeutischer Übungen gibt.

Ein weiterer Beitrag passend zum Thema: Reha-Empfehlungen nach Rotatorenmanschettenrekonstruktion.

Studienaufbau

Insgesamt 5 weibliche und 5 männliche Probanden (31 ± 3 Jahre, 23,1 ± 3,8 kg/m2) mit gesunden Schultern nahmen an der experimentellen Beobachtungsstudie teil. Die Datenerfassung fand in einem Krankenhaus unter standardisierten Bedingungen statt. Jeder Teilnehmer führte mit allen drei Orthesen 7 verschiedene ADL aus. Die Orthesen wurden jeweils an der dominanten Körperseite angelegt. Zusätzlich wurden 4 verschiedene physiotherapeutische Übungen ohne Orthese ausgeführt.

Bei den drei verschiedenen Schulterorthesen handelte es sich um folgende Modelle:

  • Modell #A: Schulterschlinge (interne Rotation des Arms direkt am Körper, 0° Abduktion)
  • Modell #B: Orthese mit Abduktionskissen (interne Rotation 10°, 20° Abduktion)
  • Modell #C: Variabel einstellbare Orthese (neutrale, interne Rotation des Arms, 20° Abduktion)

Gemessen wurde die neuromuskuläre Aktivierung in drei oberflächlichen Muskeln (Trapezius, Deltoideus und Pectoralis major) und zwei tiefen Muskeln (Infraspinatus, Supraspinatus) mit Hilfe eines elektromyografischen-Systems (EMG-Systems). Zusätzlich wurde eine Inertiale Messeinheit (IMU), eine Videokamera und eine Visuelle Analogskala (VAS) herangezogen, um Immobilisierungs-Level, Anfang und Ende jeder Bewegung und Tragekomfort der Orthesen zu evaluieren.

Folgende ADL wurden mit gleichzeitigem Tragen der Orthesen untersucht:

  • Hinsetzen und Aufstehen (Stuhl)
  • Öffnen und Schließen einer Flasche im Stehen
  • Tippen des Alphabets mit einer Computer-Tastatur
  • An- und Ausziehen einer Jacke im Stehen
  • Hinlegen und Wiederaufstehen von einer Couch
  • Langsames Laufen über 2 x 10 m mit Pause
  • Anziehen, Ablegen und Wiederanziehen einer Orthese

Folgende physiotherapeutischen Übungen wurden ohne Orthese ausgeführt:

  • Wischübung am Tisch
  • Schulterpendel
  • Assistiertes Armheben
  • Passive Bewegung des Arms mit CPM-Gerät

Die Ergebnisse der EMG- und IMU-Messung, die Analyse der Videoaufnahmen und die Angaben der Probanden auf einer Visuellen Analogskala (VAS) wurden ausgewertet.

Ergebnisse

Die neuromuskuläre Aktivierung der Schultermuskeln während der Ausführung der Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) war unterschiedlich (p ≤ 0,045), je nachdem welche Orthese getragen wurde. 

Bei der variabel einstellbaren Orthese (#C) konnte die höchste neuromuskuläre Aktivierung gemessen werden, was mit der niedrigsten subjektiven Bewertung des Tragekomforts (VA-Skala) dieser Orthese assoziiert werden konnte.

Bei den physiotherapeutischen Übungen ohne Orthese konnten ebenfalls unterschiedliche Aktivierungslevels festgestellt werden (p ≤ 0,006). Die höchsten Aktivierungswerte wurden bei den Übungen „Assistiertes Armheben“ und „Wischübung am Tisch“ nachgewiesen. Mittlere Aktivierungswerte traten beim Schulterpendel und die geringsten bei der Übung mit einem CPM-Gerät auf. Welche Muskeln dabei speziell aktiviert wurden, sehen Sie in der folgenden Abbildung.

Take-home Message

  • Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass nicht das zugrundeliegende Konzept der verschiedenen Orthesen für die neuromuskuläre Aktivierung von Bedeutung ist. Vielmehr scheint ein subjektiv besserer Tragekomfort zu einer geringeren neuromuskulären Aktivierung der oberflächlichen und tiefen Schultermuskulatur bei ADL zu führen.
  • Die Hypothese, dass der Typ der Orthese zu unterschiedlichen Aktivierungslevels in der Schultermuskulatur führt, konnte in dieser kleinen Observationsstudie mit 10 Probanden so nicht bestätigt werden.
  • Was die neuromuskuläre Aktivierung bei physiotherapeutischen Übungen betrifft, so konnte diese Studie vorherige Studien bestätigen, dass passive Übungen (z.B. in einem CPM-Stuhl) den geringsten Aktivierungsgrad der Schultermuskeln verursachen. Passive Übungen sollten daher für die frühe postoperative Rehabilitation in Erwägung gezogen werden.
  • Neben der geringen Anzahl an Probanden hat diese Studie eine weitere Limitation: Die Tests wurden an jüngeren und gesunden Probanden durchgeführt. Es sollten daher nur mit Vorsicht Schlussfolgerungen für die ärztliche Praxis gezogen werden.
  • Die Ergebnisse können aber behandelnde Ärztinnen und Ärzte bei der Auswahl von Orthesen und physiotherapeutischen Übungen unterstützen. Sie können außerdem Herstellern von Orthesen nützliche Informationen für die Weiterentwicklung liefern.

Quellenangaben

1Grim, C., Baumgart, C., Schlarmann, M., Hotfiel, T., Javanmardi, S., Hoffmann, N., Kurz, E., et al. (2022). Effects of Different Orthoses on Neuromuscular Activity of Superficial and Deep Shoulder Muscles during Activities of Daily Living and Physiotherapeutic Exercises in Healthy Participants. Journal of Personalized Medicine, 12(12), 2068. MDPI AG. Retrieved from http://dx.doi.org/10.3390/jpm12122068

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