Diabetisches Fußsyndrom: Was empfiehlt die neue IWGDF-Guideline zur Druckentlastung?

30. Nov, 2023

Menschen mit Diabetes sind anfällig für eine Vielzahl von Komplikationen, dabei ist das diabetische Fußsyndrom besonders schwerwiegend. Ursache sind hohe Blutzuckerspiegel, die Nerven und Blutgefäße schädigen können, was wiederum zu Sensibilitätsverlust und reduzierter Durchblutung in den Füßen führt. Kleinste Verletzungen oder Druckstellen können sich unbehandelt schnell zu Geschwüren entwickeln. Die neue Leitlinie der IWGDF (International Working Group on the Diabetic Foot) zum Thema Druckentlastung (Offloading) gibt hierzu aktuelle Empfehlungen2.

Laut Diabetes-Report des RKI von 20191 wird bei 6,2% aller Diabetes-Erkrankten (Frauen: 5,7%; Männer: 6,6%) ein diabetisches Fußsyndrom diagnostiziert. In der Gruppe der 80- bis 89-Jährigen liegt dieser Anteil schon bei 7,4% (Frauen: 7,1%; Männer: 8,0%). Darüber hinaus verlangsamt Diabetes den Heilungsprozess von Wunden und erhöht das Risiko von Infektionen, was in schweren Fällen zu Amputationen führen kann.

Abb.: Heat-Map der für Fußgeschwüre anfälligen Zonen des Fußes

Beste Prävention durch Druckentlastung

Ganz allgemein ist die Prävention des diabetischen Fußsyndroms der beste Ansatz. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Arzt und Patient und eine regelmäßige Fußpflege können dazu beitragen, das Risiko zu minimieren. Wenn jedoch bereits Geschwüre vorliegen, ist eine schnelle und angemessene Behandlung unerlässlich, um schwerwiegende Komplikationen zu verhindern. Dabei spielt die Druckentlastung eine enorm wichtige Rolle. Sie fördert die Heilung, indem sie die Belastung der betroffenen Stellen minimiert und die Durchblutung verbessert.

Begriffserklärung: Nicht abnehmbare vs. abnehmbare Hilfsmittel

Druckentlastende Hilfsmittel spielen in der IWGDF-Leitlinie 20232 die größte Rolle bei der Behandlung des diabetischen Fußsyndroms. Dabei muss zwischen zwei Typen unterschieden werden.

Unter „nicht abnehmbaren Hilfsmitteln zur Druckentlastung“ verbergen sich zwei Varianten:

  • Die nicht abnehmbare bzw. verschließbare Orthese kann nur vom Fachpersonal mit einem Schlüssel geöffnet werden. Ein unerwünschtes Abnehmen der Orthesen von Seiten des Erkrankten selbst ist nicht möglich. Der Vorteil im Vergleich zum TCC: Die verschließbare Orthese kann vom behandelnden Fachpersonal jederzeit, einfach und schnell zum Verbandswechsel bzw. zur Kontrolle abgenommen und wieder anlegt werden, das ist im Praxisalltag wesentlich praktikabler als ein Gips.
  • Der TCC (Vollkontaktgips) kann ebenso lediglich vom Fachpersonal angelegt und entfernt werden, sodass ein ungewolltes Abnehmen des Gipses von Seiten der Erkrankten verhindert wird. Die TCCs sind heutzutage auch flexibler, was das zur Wundversorgung notwendige Abnehmen des Verbandes betrifft. Allerdings ist der Aufwand für das Abnehmen und wieder neu Anlegen im Vergleich zur Orthese wesentlich höher und erfordert entsprechende Spezialkenntnisse beim Personal.

Unter „abnehmbaren Hilfsmitteln zur Druckentlastung“ hingegen versteht man Orthesen, die sowohl von den Erkrankten selbst als auch von den behandelnden Ärztinnen und Ärzten und dem Pflegepersonal geöffnet und geschlossen werden können. Diese Möglichkeit führt oft zu einem Compliance-Problem, denn Patientinnen und Patienten mit einer neuropathischen Erkrankung spüren ihre Verletzungen oft nicht und sehen daher auch nicht den Nutzen in der Versorgung. Wird das Hilfsmittel nicht getragen, wird die Heilung des Geschwürs verzögert oder sogar verhindert.

Kurz und knapp die wichtigsten Empfehlungen

Beim plantaren Geschwür an Vor- und Mittelfuß werden folgende Maßnahmen empfohlen:

  • Das Mittel der ersten Wahl ist eine verschließbare, kniehohe Orthese oder ein TCC.
  • Das Mittel der zweiten Wahl ist eine nicht verschließbare, kniehohe Orthese oder TCC oder eine nicht verschließbare, knöchelhohe Orthese.
  • Das Mittel der dritten Wahl: Verbands- oder Therapieschuhe mit Entlastung zum Beispiel durch Filze.

Abb.: Die Mittel der Wahl bei neuropathischen plantaren Geschwüren an Vor- und Mittelfuß

Die kompletten Empfehlungen der IWGDF-Leitline2 in der Übersicht

Bei neuropathischen plantaren Geschwüren am Vor- oder Mittelfuß

1a. Nicht abnehmbare, kniehohe Hilfsmittel zur Druckentlastung sind das Mittel der ersten Wahl zur Behandlung von neuropathischen plantaren Fußgeschwüren (Empfehlungsgrad: Stark / Evidenzklasse: Moderat).

1b. Unter nicht abnehmbaren Hilfsmitteln versteht man entweder TCCs oder abschließbare Orthesen. Die Entscheidung, welches Hilfsmittel verwendet wird, sollte abhängig von Ressourcen und persönlichen Faktoren bzw. Akzeptanz der Erkrankten entschieden werden (Empfehlungsgrad: Schwach / Evidenzklasse: Moderat).

2. Bei Kontraindikationen oder mangelnder Akzeptanz gegenüber nicht abnehmbaren, kniehohen Hilfsmitteln, sind die Mittel der zweiten Wahl abnehmbare, kniehohe oder mindestens abnehmbare, knöchelhohe Hilfsmittel. Dabei sollte den Erkrankten dringend dazu geraten werden, die Hilfsmittel mindestens immer dann zu tragen, wenn das Bein belastet wird (Empfehlungsgrad: Schwach / Evidenzklasse: Niedrig).

3. Das Tragen von normalen Alltagsschuhen und nicht anpassbaren therapeutischen Schuhen ist kontraindiziert. Die Erkrankten sollten auch diesbezüglich aufgeklärt werden (Empfehlungsgrad: Stark / Evidenzklasse: Niedrig).

4. Wenn keinerlei Hilfsmittel zur Druckentlastung verfügbar sind, sollten als Mittel der dritten Wahl Verbands- oder Therapieschuhe mit individualisierter Entlastung (z.B. durch Filze) in Erwägung gezogen werden (Empfehlungsgrad: Schwach / Evidenzklasse: Sehr niedrig).

Bei neuropathischen plantaren Geschwüren an den Metatarsalköpfen und an den Zehen

5a. Bei Geschwüren an den Metatarsalköpfen, bei denen eine nicht operative Entlastungsbehandlung versagt hat, sollte eine Achillessehnenverlängerung in Kombination mit einem Hilfsmittel zur Druckentlastung erwogen werden (Empfehlungsgrad: Schwach / Evidenzklasse: Moderat).

5b. Wenn eine nicht operative Entlastungsbehandlung fehlschlägt, kann auch eine Resektion des Metatarsalkopfes in Kombination mit einem Hilfsmittel zur Druckentlastung in Betracht gezogen werden (Empfehlungsgrad: Schwach / Evidenzklasse: Niedrig).

5c. Bei einem neuropathischen Hallux-Ulkus, bei dem eine konservative Entlastungsbehandlung erfolglos war, kann eine Gelenkarthroplastik in Kombination mit einem Hilfsmittel zur Druckentlastung erwogen werden (Empfehlungsgrad: Schwach / Evidenzklasse: Niedrig).

5d. Bei neuropathischen plantaren Ulzera an den Metatarsalköpfen 2-5, bei denen eine nicht operative Entlastungsbehandlung fehlschlagen hat, kann eine Metatarsalosteotomie in Kombination mit einem Hilfsmittel zur Druckentlastung in Betracht gezogen werden (Empfehlungsgrad: Schwach / Evidenzklasse: Sehr niedrig).

6. Bei einem Ulkus an der Ober- oder Unterseite der Zehen 2-5, hervorgerufen durch eine flexible Zehendeformation, wird eine Tenotomie der digitalen Beugesehne empfohlen, um die Heilung des Ulkus zu fördern und zu erhalten (Empfehlungsgrad: Stark / Evidenzklasse: Moderat).

Bei neuropathischen, plantaren Geschwüren plus Infektion und / oder Ischämie

7. Bei einem plantaren Vorfuß- oder Mittelfußgeschwür mit entweder einer leichten Infektion oder einer leichten Ischämie kann die Verwendung eines nicht abnehmbaren, kniehohen Hilfsmittels zur Druckentlastung erwogen werden (Empfehlungsgrad: Schwach / Evidenzklasse: Niedrig).

8. Bei einem plantaren Vorfuß- oder Mittelfußgeschwür mit sowohl einer leichten Infektion als auch einer leichten Ischämie, oder mit entweder einer moderaten Infektion oder einer moderaten Ischämie, kann die Verwendung eines abnehmbaren Hilfsmittels zur Druckentlastung erwogen werden (Empfehlungsgrad: Schwach / Evidenzklasse: Niedrig).

9. Bei einem plantaren Vorfuß- oder Mittelfußgeschwür mit sowohl einer moderaten Infektion als auch einer moderaten Ischämie, oder mit entweder einer schweren Infektion oder einer schweren Ischämie, sollte primär die Infektion und die Ischämie behandelt werden. Zusätzlich sollte, je nach individueller Situation, bevorzugt ein abnehmbares Hilfsmittel zur Druckentlastung vs. keine Entlastungsmaßnahme verwendet werden (Empfehlungsgrad: Schwach / Evidenzklasse: Niedrig).

Empfehlungen bei anderen Fußgeschwüren

10. Bei einem plantaren Fersenulkus wird ein nicht abnehmbares, kniehohes Hilfsmittel zur Druckentlastung empfohlen und als zweite Wahl ein abnehmbares Hilfsmittel zur Druckentlastung (Empfehlungsgrad: Schwach / Evidenzklasse: Sehr niedrig).

11. Bei einem nicht plantaren Fußgeschwür, werden abnehmbare Hilfsmittel zur Druckentlastung, angepasste Schuhe, Zehenseparatoren, Orthesen oder Tenotomie der digitalen Beugesehne empfohlen, je nach Typ und Position des Geschwürs (Empfehlungsgrad: Stark / Evidenzklasse: Sehr niedrig).

12. Bei Fußgeschwüren, bei denen knie- oder knöchelhohe Entlastunghilfen verwendet werden, sollte das Tragen einer Ausgleichssohle auf der kontralateralen Seite in Erwägung gezogen werden, um Komfort und Balance beim Gehen zu verbessern (Empfehlungsgrad: Schwach / Evidenzklasse: Sehr niedrig).

Quellenangaben

Diabetes in Deutschland – Bericht der nationalen Diabetes-Surveillance 2019, Robert Koch-Institut, https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/­­­Studien/Diabetes_Surveillance/Diabetesbericht.html

IWGDF Guidelines – Offloading guideline (2023 update), International Working Group on the Diabetic Foot (IWGDF), https://iwgdfguidelines.org/offloading-guideline-2023/