Vordere Kreuzbandruptur: Verletzungsmuster, Behandlung und postoperative Behandlung

09. Jun, 2023

Ein Gastbeitrag von Dr. med. Gerolf Bergenthal, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie

Der Riss des vorderen Kreuzbandes ist eine schwere Verletzung und die häufigste Bandruptur des menschlichen Körpers. Das vordere Kreuzband ist in 10–30 Prozent aller Knietraumata betroffen, und zeigt eine Inzidenz von 3,2 Prozent bei Männern bzw. 3,5 Prozent bei Frauen.

Wie entsteht ein Riss des vorderen Kreuzbandes

Gemeinsam mit dem hinteren Kreuzband stellt das vordere Kreuzband (VKB) den zentralen femorotibialen Stabilisator des Kniegelenkes gegen Translation und Rotation dar und steuert so die Roll-Gleit-Bewegungen des Kniegelenkes. Flexions-Rotationstraumen, Valgus-Rotationstraumen und Hyperextensionstraumen werden als häufigste Verletzungsmechanismen der vorderen VKB-Rupturen (auch ACL-Rupturen, ACL = anterior cruciate ligament) beim Sport angegeben. Analysen des Unfallmechanismus und des Unfallhergangs zeigen, dass VKB-Rupturen v. a. im Sport auftreten, und zwar in Situationen mit plötzlichen und unerwartet heftigen Bewegungsabläufen. Hier kommt es zu einer vermehrten exzessiven Spannung des vorderen Kreuzbandes ggf. in Kombination mit einer pivotartigen Bewegung, das Kreuzband wird überdehnt und kann an- oder sogar abreißen.

Verletzungsfolgen

Rupturen des VKBs führen immer zu einem Stabilitätsverlust und zu hierdurch bedingten kinematischen Veränderungen des femorotibialen Roll-Gleit-Mechanismus des Kniegelenkes. Neben den unmittelbaren Folgen des Stabilitätsverlusts führen die Veränderungen im zeitlichen Verlauf zu Meniskus- und Knorpelschäden, wodurch eine progressive Verschlechterung der Kniegelenkfunktion und der sportlichen Leistungsfähigkeit bedingt wird. Häufig kann es im Rahmen vorderer Kreuzbandrupturen zu Begleitverletzungen der Menisken, der Seitenbänder sowie des Knorpels kommen (chondrale bzw. osteochondrale Läsionen).

Therapie

Obwohl bisher keine evidenzbasierten Therapieempfehlungen für die Behandlung vorderer Kreuzbandrupturen existieren, zeigen Studien, dass mit der operativen Therapie Vorteile verbunden sind. So finden sich nach vorderem Kreuzbandersatz geringere Raten sekundärer Meniskusläsionen, Verbesserungen der subjektiven und objektiven Stabilität und Verbesserungen des sportlichen Aktivitätsgrades. Der vordere Kreuzbandersatz stellt daher für Sportler die Therapie der Wahl zur Behandlung einer VKB-Ruptur dar.

Die Wiedererlangung der Sportfähigkeit nach vorderem Kreuzbandersatz hängt zum einen von einer erfolgreichen Operation, aber auch von der Nachbehandlung und Rehabilitation ab. Neben der Entwicklung neuer Implantate, Instrumente sowie neuer Operationstechniken und -methoden wurden in den vergangenen Jahren verschiedene Rehabilitations- und Trainingsprogramme entwickelt, mit deren Hilfe Sportler besser und schneller rehabilitiert werden können.

Da auch kein „optimales Rehabilitationsprogramm“ existiert, sollten Rehabilitationsprogramme als Leitfaden verstanden werden und abhängig von Operationstechnik, Begleitverletzungen und sportartspezifischen Besonderheiten individuell angepasst werden.

Die Rolle von Knieorthesen bei der Nachbehandlung

Der Einsatz von Knieorthesen wird kontrovers diskutiert und die Studienlage ist indifferent. Eine Anwendung hat das Ziel, das operative Ergebnis (auch über einen Zeitraum von vier Monaten hinaus) zu schützen, die Sensomotorik zu fördern und den Muskelaufbau zu unterstützen.

Bei der Verwendung von Orthesen in der Nachbehandlung der VKB-Ruptur sind die klinischen Untersuchungen zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Während wenige Studien positive Effekte bei Patienten mit Orthesen-Behandlung nach vorderer Kreuzbandplastik beschrieben haben, berichtet die Mehrzahl der Autoren, dass die Verwendung von Kniegelenksorthesen keinen Einfluss auf das klinische Ergebnis hat. Hier steht sicherlich auch das operative Ergebnis ausreichender Transplantatdicke und der richtigen Positionierung der Bohrkanäle sowie der korrekten Verankerung im Knochen im Vordergrund.

Ortheseneffekte: Stabilisierung, Bewegungslimitierung und Schutzfunktion

Für den Operateur hat die Anwendung einer Kniegelenksorthese postoperativ verschiedene positive Effekte:

1. Stabilisierung und Bewegungslimitierung

Hartrahmenorthesen haben einen stabilisierenden Effekt und können das Bewegungsausmaß des Gelenkes limitieren. Somit ist gewährleistet, dass die zur Nachbehandlung empfohlenen Bewegungseinschränkungen in den ersten sechs Wochen eingehalten werden und schrittweise gesteigert werden können. Die Bewegungslimitierungen können auch individuell an die mitbehandelten Begleitverletzungen, wie z. B. Meniskusnaht, Innenbandriss etc. angepasst werden. Voraussetzung ist dabei jedoch die korrekte Anlage und Trageweise der Orthese.

2. Schutzfunktion

Relevant für die Nutzenbewertung einer Orthese ist auch die Schutzfunktion, also Schutz gegen unzuträgliche, das OP-Ergebnis gefährdende Bewegungen im Alltag während der Transplantat-Einheilungsphase. Zu vermeiden ist vor allem ein Valgus-Stress beim Aussteigen aus dem Auto, Treppensteigen oder Laufen auf unebenem Untergrund. Analog zum Sicherheitsgurt beim Autofahren – solange nichts passiert, braucht man ihn nicht, wenn etwas passiert, kann er Leben retten – dient die Orthese dem Schutz des Transplantates bzw. des OP-Ergebnisses. Eine erhebliche Zahl von Patienten berichtet beim Tragen einer Orthese über ein vermehrtes Sicherheitsgefühl, und Therapeuten sehen in der Verwendung zusätzlich eine Mahnfunktion.

Anwendungsbeobachtung - eigene Erfahrungen

Anhand einer Anwendungsbeobachtung zur postoperativen Therapie nach VKB-Ersatzplastik mit einer Kniegelenksorthese wurde der Tragekomfort, die subjektive Stabilität und Handhabung der Orthese abgefragt. Bei der Orthese handelt es sich um eine Hartrahmenorthese aus Aluminium, die in sechs verschiedenen Größen angeboten wird und über vier Gurte am Bein fixiert wird.

Methode

Zwanzig Patienten mit operativ versorgter VKB-Ruptur mit oder ohne weitere Begleitverletzungen wurden in die Anwendungsbeobachtung eingeschlossen. In allen Fällen erfolgte die Entnahme der Semitendinosus-Sehne über einen ventralen medialen Zugang zum Pes anserinus. Die Verankerung der Sehne erfolgte über zwei Tight-Rope-Fäden mit implantatferner Fixierung an der Kortikalis in anatomischer Kreuzbandposition.

Die Nachbehandlung erfolgte standardisiert mit einem einheitlichen Nachbehandlungsschema. Die Schiene wurde unmittelbar nach dem ersten Verbandswechsel und Drainagenzug angelegt, die Beweglichkeit in den ersten zwei Wochen betrug 0–30°. Steigerung in Woche 3 und 4 auf 0–60° und in den Wochen 5 und 6 auf 0–90°. Eine Teilbelastung von 20 kg wurde in den ersten beiden Wochen empfohlen, anschließend erfolgte schmerzabhängig der individuelle Belastungsaufbau bis zur Vollbelastung.

Die Befragung der Patienten erfolgte mit einem standardisierten Fragebogen am Ende der Tragezeit von sechs Wochen. Ein Dokumentationsbogen zur Patientenversorgung wurde vom behandelnden Arzt ausgefüllt.

In der Patientenbefragung wurden folgende Aspekte abgefragt:

  1. Bedienung beim Anlegen der Orthese
  2. Tragekomfort
  3. Wirkung
  4. Schwitzen beim Tragen
  5. Flache Bauweise
  6. Mobilität mit Orthese
  7. Benutzung im Alltag
  8. Gesamteindruck

Der ärztliche Dokumentationsbogen enthielt folgende Fragen:

  • Erreichen des Wirkprinzips
  • Kontrollierte Flexions- und Extensionseinstellung
  • Handling der Drehverschlüsse zur Gurtspannung
  • Passform
  • Gesamteindruck der Orthese

Ergebnisse

Von den 20 Patienten wurde die Passform, das angestrebte Wirkprinzip und die flache Bauweise beim Tragen unter der Kleidung als gut bewertet. Die kontrollierte Flexions- und Extensionsstellung wurde als sehr gut bis gut bewertet, insbesondere die werkzeugfreie Umstellung der Einstellung im Verlauf der postoperativen Therapie wurde bei der Befragung hervorgehoben. Bei zwei Patienten wurde die Anwendung der Orthese in der unmittelbar postoperativen Phase im Wundbereich an der Sehnenentnahmestelle am Tibiakopf als leicht schmerzhaft beschrieben. Dadurch kam es bei diesen beiden Patienten auch zu einer mangelnden Compliance bei der ausgesprochenen Empfehlung zum dauerhaften Tragen der Orthese. Das Oberflächenmaterial der Orthese war angenehm und vermehrtes Schwitzen beim Tragen konnte nicht festgestellt werden. Alle Patienten berichteten von einer verbesserten Mobilität durch das Tragen der Orthese.

Take-Home Message

Die operative Versorgung der vorderen Kreuzbandruptur ist dem jungen aktiven Sportler zu empfehlen. Das Auftreten von sekundären Schäden im Kniegelenk kann dadurch verringert werden. Das Wiedererlangen des gleichen Aktivitätsniveaus wie vor der Verletzung hängt ab von der erfolgreichen Operation, der optimalen Nachbehandlung und Rehabilitation. Der Einsatz von Kniegelenksorthesen zur Stabilisierung in der frühen postoperativen Phase hat einen subjektiven und objektiven Nutzen sowohl für Therapeuten als auch für Patienten. Auch wenn die Literatur weiter uneinheitlich zu bewerten ist, so favorisiert der Autor das Tragen einer Orthese in den ersten sechs Wochen nach einer VKB-Ersatzplastik.

Literatur beim Verfasser

Korrespondenzadresse

Dr. med. Gerolf Bergenthal, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie

ortho sport zentrum GbR, Ketschengasse 22–24, 96450 Coburg

 

Hinweis: Erstveröffentlichung dieses Beitrages in „Orthopädie aktuell 12/2017“, herausgegeben von eurocom e. V., 

www.eurocom-info.de

 

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