Akute Kahnbeinfrakturen: Das empfehlen die europäischen Guidelines (EFORT)

31. Mär, 2023

Kahnbeinfrakturen (Skaphoidfrakturen) sind sehr häufige Verletzungen, die vorwiegend durch Stürze auf die ausgestreckte Hand entstehen, speziell wenn sich die Hand beim Aufprall in einer extremen Dorsalflexion befindet. Aber auch ein direkter Schlag auf die Handfläche kann einen Bruch des Kahnbeins verursachen, oder z.B. das Abstützen mit den Händen auf dem Lenkrad bei einem Autounfall

Das Wichtigste im Überblick

  • Kahnbeinfrakturen sind sehr häufig, bleiben aber oft unerkannt und unbehandelt.
  • Neben den klinischen Tests sind bildgebende Verfahren von großer Bedeutung bei der Erkennung von Kahnbeinfrakturen.
  • Speziell Brüche im proximalen Drittel heilen oft weniger gut ab, außerdem kann sich eine langwierige Pseudoarthrose entwickeln.
  • Bei einfachen Frakturen des distalen Drittels ist es meistens ausreichend, das Handgelenk vier Wochen lang mit Orthese oder Gipsverband ruhigzustellen. 

Die European Federation of National Associations of Orthopaedics and Traumatology (EFORT) ist die Dachorganisation der europäischen Orthopäden und Unfallchirurgen und hat 2020 europäische Guidelines zur Behandlung von Kahnbeinfrakturen veröffentlicht.1 Laut dieser Guideline ist das Kahnbein mit einer Inzidenz zwischen 29 und 43 Frakturen pro 100.00 Personen die häufigste Handwurzelfraktur. Kahnbeinfrakturen stellen 60% aller Frakturen der Handwurzel, 11% aller Handfrakturen und immerhin noch 2% aller Frakturen insgesamt dar. Die meisten Frakturen passieren jungen Männern zwischen 15 und 25 Jahren, die typischerweise beim Ausüben eines Sports auf die überstreckte Hand fallen.1

In zwei Drittel der Kahnbeinfrakturen handelt es sich um Frakturen im Bereich des mittleren Drittels des Kahnbeins, von denen die meisten (60-85%) nicht disloziert sind. Frakturen im distalen Drittel des Kahnbeins haben einen Anteil von 25% und im proximalen Drittel von 5-10%.1

Schwer zu diagnostizieren, daher oft unerkannt

Selbst wenn die klinischen Anzeichen eindeutig sind, zeigen Röntgenaufnahmen oft einen falsch negativen Befund an. Das führt dazu, dass Kahnbeinfrakturen unerkannt (okkult) bleiben und auch nicht entsprechend behandelt werden. Es wird davon ausgegangen, dass 20–40% der Fälle nicht erkannt werden.2 Das hat lt. EFORT dazu geführt, dass teilweise sehr restriktive Behandlungsregimes eingeführt wurden, teilweise mit einer Ruhigstellung von 8-12 Wochen, was in den meisten Fällen nicht notwendig sei.

Mayo-Klassifikation von Kahnbeinfrakturen

Die Autoren der EFORT-Leitlinien verwenden zur Diagnose die Mayo-Klassifikation. Sie basiert hauptsächlich darauf, wo genau sich die Fraktur befindet (es gibt hier fünf verschiedene Orte, siehe Abb.). Zusätzlich verfügt die Mayo-Klassifikation über einen Appendix, der weitere Faktoren beinhaltet, die mit Frakturinstabilität in Zusammenhang stehen.1

Neben der Mayo-Klassifikation gibt es eine Reihe weiterer Klassifikationen. Die bekanntesten sind die Klassifikationen nach Herbert, Russe, Krimmer oder die in Deutschland häufig verwendete AO-Klassifizierung.

Pseudarthrosen oder SNAC-Wrist: Wenn der Knochen nicht gut zusammenwächst

Kahnbeinfrakturen sind aber nicht nur schwierig zu diagnostizieren, sie wachsen auch oft schlecht zusammen. Dies kann bei manchen Patienten zu degenerativen Veränderungen führen, Stichwort „Kahnbeinpseudoarthrose“, oder sogar zu einem Kollaps der Handwurzel, der so genannten SNAC-Wrist (scaphoid non-union advanced collapse).1 Es wurde berichtet, dass bis zu 32% aller Kahnbeinfrakturen nicht vollständig zusammenwachsen und in Folge eine Pseudoarthrose entwickeln.3

Normalerweise heilen Knochenbrüche innerhalb von wenigen Wochen aus. Ist das nicht der Fall, wird von einer ausbleibenden oder verzögerten Konsolidierung bzw. einer Pseudarthrose (Falschgelenk) gesprochen. Das kommt in ca. 5-10% aller Frakturen vor. Von einer Pseudarthrose spricht man erst, wenn die Knochenheilung nach 6 Monaten noch nicht erfolgt ist. Ist die Knochenheilung nach 4-6 Monaten noch nicht abgeschlossen ist, wird sie als „verzögerte Frakturheilung“ bezeichnet. Die Pseudoarthrose wird meistens durch eine mangelnde Stabilisierung hervorgerufen und wird meist operativ behandelt.4

Ein höheres Risiko, eine Pseudarthrose zu entwickeln, haben Frakturen im proximalen Drittel, denn hier verfügt das Kahnbein über keine eigene Blutversorgung. Das führt dazu, dass unbehandelte Frakturen im proximalen Drittel 3- bis 6-mal häufiger Pseudarthrosen und ggf. auch avaskuläre Nekrosen entwickeln.

Der diagnostische Pfad – kurz zusammengefasst

Die EFORT gibt bei Verdacht auf Kahnbeinfraktur folgende Handlungsrichtlinien1 vor:

Klinische Tests

  1. Druck auf die Tabatière
  2. Druck auf das Tuberculum ossis scaphoidei
  3. Kompression des Daumens in der Längsachse

Eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass eine Kahnbeinfraktur vorliegt, ist dann gegeben, wenn entweder 1) oder 2) vorliegt oder wenn irgendeine Kombination von 1), 2) oder 3) vorliegt. Von den klinischen Tests hat der Schmerztest bei axialer Kompression des Daumens nachweislich die schwächste diagnostische Aussagekraft.

Röntgenaufnahmen

Die dorsopalmaren und seitlichen Aufnahmen des Handgelenks werden in neutraler Position angefertigt, wobei die dorsopalmaren Aufnahmen am besten bei geschlossener Faust und Ulnardeviation gelingen. Es wird empfohlen, drei bis vier Aufnahmen in unterschiedlichen Winkeln zu machen, denn eine nur minimal verschobene Kahnbeinfraktur wird nur erkannt, wenn der Röntgenstrahl parallel zur Frakturlinie gerichtet ist. Allerdings kann eine Röntgenaufnahme eine Kahnbeinfraktur nur mit einer Sensitivität von 70% erkennen.

MRT

Die Autoren empfehlen frühe MRT-Aufnahmen. Sie haben eine hohe Sensitivität von 99-100%, können also kostengünstig für eine sofortige und adäquate Behandlung sorgen, und können auch noch Informationen über eventuelle andere Verletzungen des Handgelenks liefern.

CT

Mit einer Sensitivität von 93-95% sind CTs eine verlässliche Alternative, sollte kein MRT-Gerät zur Verfügung stehen.

Die wichtigsten Behandlungsempfehlungen der EFORT1

  • Verdacht auf Kahnbeinfraktur bei gleichzeitig negativem (ersten) Röntgenbefund:
    Ruhigstellung der Hand, zusätzlich MRT oder alternativ CT innerhalb von drei bis fünf Tagen
  • Klassifizierung der Fraktur, Beurteilung der Dislokation und der Frakturheilung:
    Vorzugsweise per CT mit Rekonstruktionen in der koronalen und sagittalen Ebene entlang der Längsachse des Kahnbeins
  • Minimal verschobene Kahnbeinfrakturen (≤ 0,5 mm):
    Nach adäquater konservativer Behandlung wird bei etwa 90% dieser Kahnbeinfrakturen nach sechs Wochen eine Heilung erreicht.
  • Kahnbeinfrakturen im mittleren Drittel mit mäßiger Verschiebung (0,5–1,5 mm):
    Konservative Behandlung mit längerer Gipsruhigstellung (8–10 Wochen)
  • Kahnbeinfrakturen mit einer Verschiebung ≥ 1,5 mm:
    Interne Fixierung
  • Distale Kahnbeinfrakturen:
    Können konservativ behandelt werden, die meisten Frakturen heilen nach vier bis sechs Wochen Ruhigstellung aus, je nach Frakturtyp. Speziell bei Frakturen des distalen Drittels ist es meistens ausreichend, das Handgelenk vier Wochen lang mit Orthese oder Gipsverband ruhigzustellen.
  • Proximale Kahnbeinfrakturen:
    Behandlung mit interner Fixierung

Die Langfassung der Behandlungsempfehlungen von EFORT finden Sie in der Originalpublikation.1

Wichtig bei der weiteren Behandlung: Kontrolle der Knochenheilung

Während der Behandlung sollte die Knochenheilung durch eine Kombination aus klinischen Untersuchungen und radiologischen Befunden überwacht werden. Klagt der Patient z.B. über einen persistierenden Schmerz an der Bruchstelle, könnte dies ein Anzeichen für eine unzureichende Knochenheilung oder für eine weitere, noch unerkannte Verletzung sein. Man beachte jedoch, dass Schmerzen an der Tabatière unter Umständen auch bei guter Knochenheilung über eine längere Zeit nach dem Unfall persistieren können.1

Bestehen Zweifel über den Stand der Knochenheilung, kann mit Hilfe eines CTs entlang der Längsachse des Kahnbeins am verlässlichsten eruiert werden, ob die Knochen zusammengewachsen sind. Ist dies der Fall, können 90% aller nicht oder gering dislozierter Frakturen im mittleren Drittel nach sechs Wochen bereits wieder mobilisiert werden. Bei einer Knochenheilung von <50% und wenn keine anderen Faktoren dagegensprechen, wird empfohlen, die Ruhigstellung in vierwöchigen Schritten zu verlängern, bis eine Knochenheilung erreicht ist. Die meisten Frakturen heilen innerhalb von 10-12 Wochen im Gipsverband ab. Ist dies nach 10-12 Wochen noch nicht der Fall, sollte ein Strategiewechsel in Richtung Osteosynthese in Betracht gezogen werden.1

Rückkehr an den Arbeitsplatz

Ein kurzer Unterarmgips oder eine Orthese ermöglichen vielen Patienten, wieder zeitnah an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Bei Berufen, die eine schwere und repetitive physische Belastung des Armes mit sich bringen, sollte – neben der klinischen Bewertung – anhand eines CTs belegt werden, dass der Kahnbeinbruch zusammengewachsen ist (>50% Knochenbälkchen über der Frakturstelle).1

Darüber hinaus empfehlen die Autoren, dass der Bewegungsumfang (Range of Motion) und die Griffstärke des Handgelenks mindestens 20-40% der kontralateralen Seite betragen sollten, bevor Patienten wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.1

1 Clementson, M., Björkman, A. & Thomsen, N. (2020). Acute scaphoid fractures: guidelines for diagnosis and treatment. EFORT Open Reviews, 5(2), 96–103. https://doi.org/10.1302/2058-5241.5.190025

Flury, A. & Günkel, S. (2020). Die okkulte Skaphoidfraktur: aktuelle Evidenz und diagnostischer Algorithmus. Unfallchirurg. 123(3):238-24. https://doi.org/10.1007/s00113-019-00722-4

3 Cohen, A., Reijman, M., Kraan, G. A., Mathijssen, N. M. C., Koopmanschap, M. A., Verhaar, J. A. N., Mol, S. & Colaris, J. W. (2020). Clinically SUspected ScaPhoid fracturE: treatment with supportive bandage or CasT? ‘Study protocol of a multicenter randomized controlled trial’ (SUSPECT study). BMJ Open, 10(9), e036998. https://bmjopen.bmj.com/content/10/9/e036998

4 Hoffmann, J. (o. D.). Pseudarthrosen. Website des Centrums für Muskuloskelettale Chirurgie an der Charité Berlin. https://cmsc.charite.de/leistungen/unfallchirurgie/therapie/pseudarthrosen/; abgerufen am 16.03.2023.

5 Arsalan-Werner, A., Sauerbier, M. & Mehling, I. M. (2016). Skaphoidfraktur und Skaphoidpseudarthrose. Trauma und Berufskrankheit, 18(S4), 376–385. https://link.springer.com/article/10.1007/s10039-016-0147-4